Pulververpressung ergründen – Tablettendefekte vermeiden
Experte für Physik und Mechanik und Koryphäe im Bereich der Galenik: Professor Dr. Vincent Mazel widmet sich seit 2008 zunächst an der Universität Paris-Sud und jetzt am I2M, dem Institut de Mécanique et d’Ingénierie in Bordeaux, den pharmazeutischen Pulvern und ihren Verarbeitungsschritten (siehe Kasten S. 16). Dabei ist ein Aspekt für ihn forschungsleitend: „Mich interessieren die Tabletteneigenschaften, ihre mechanische Widerstandsfähigkeit und die Gründe für Defekte wie Deckeln und Delamination.“ Daher will der Wissenschaftler mit seinem Team die komplexe – und vor allem irreversible – Phase der Verpressung ergründen und verstehen, wie sich „das Zusammenspiel von Pulvermerkmalen und Prozessparametern auf die endgültige Tablette auswirkt.“
STYL’One Evo, ein vielseitiges Tool
Presskraft, Geschwindigkeit, Verweilzeiten: Jeder Parameter im Tablettierprozess ist variabel, aber entscheidend. Das französische Team verschafft sich auf zwei ineinandergreifenden Wegen Zugang zu den kinematischen Faktoren: experimentell und numerisch. Beim zweiten Ansatz werden die Kompressionsvorgänge mathematisch modelliert. Dazu plant Mazel auch die Entwicklung eines digitalen Zwillings, der das Verhalten des Pulvers so nachbildet, dass Informationen über die prozessualen Belastungen der Tablette erhoben werden können.
Systematisch werden die numerischen Ergebnisse mit denen der experimentellen Laborversuche abgeglichen. Dies wird auf dem Kompaktierungssimulator STYL’One Evo von MEDELPHARM und einer Rundlaufpresse durchgeführt. Ersterer ist in diesem Projekt ein besonderes „2-in-1-Tool“, so der Wissenschaftler. Um die Folgen für die Tabletteneigenschaften und Defekte zu erkennen, ermöglicht er zum einen, „mit der Kinematik zu spielen und ihre Auswirkungen auf die Rundlaufpresse vorauszusehen“. Zum anderen kann das instrumentierte Gerät mit seinen Presskraft- und Wegsensoren das Verdichtungsverhalten des Pulvers charakterisieren und somit wichtige Parameter für die numerische Modellierung erzeugen.
STRAP: vom Kompaktierungssimulator zur Rundlaufpresse
Das von der Universität Bordeaux entwickelte Fachwissen und die Methoden werden in Zusammenarbeit mit der TU Braunschweig in einem neuen Forschungsprojekt namens „STRAP“ angewandt. Es wird noch bis zum Jahr 2026 von der Agence Nationale de la Recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert, um deutsch-französische Wissenschaftsvorhaben zu forcieren. Mit Erfolg, denn: „Dieses Thema ist zuvor noch nie untersucht worden“, freut sich Mazel darüber, gemeinsam mit dem deutschen Team die Auswirkungen von geänderten Formulierungen auf den Gesamtprozess der Tablettierung zu ergründen.
Ein Jahrzehnt der erfolgreichen Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit des I2M mit MEDELPHARM ist etabliert; Vincent Mazel ist ein langjähriger und vielseitiger Nutzer des MEDELPHARM-Equipments: Schon seit 2011 nutzt das Institut die STYLCAM, den ersten mechanischen Kompaktierungssimulator von MEDELPHARM. Das Gerät setzt er immer noch ein, bevorzugt bei Demonstrationen und für Ausbildungszwecke, weil „seine mechanischen Funktionen Grundlegendes verständlich machen“. Schon kurze Zeit später, im Jahr 2013, kam das Nachfolgemodell, die STYL’One Evo hinzu – damals noch als Prototyp, heute in der neuesten Version. Sie ist auch bei speziellen Forschungszwecken einsetzbar, „die tief in die Technologie eindringen“, erläutert Mazel und betont gleichzeitig, dass diese Flexibilität erst durch die Unterstützung des MEDELPHARM-Teams ermöglicht wird: „Wir gehen gemeinsam Lernschritte, indem wir uns zur Software austauschen, über die Matrizenwand-Sensoren diskutieren oder uns gegenseitig Feedback zu den Prozessaktivitäten geben.“
Wissenschaftliche Veröffentlichungen: ein Instrument für die Entwicklung von Menschen und Technologien
Dieser Austausch fördert ebenso das eigene Verständnis für die pharmazeutischen Produktlinien: Dr. Friederike Gütter, Verfahrensspezialistin im INNOVATION CENTER von KORSCH, nutzt die Daten und Veröffentlichungen des I2M „in den internen Schulungen unserer Maschinenbauingenieurinnen und Maschinenbauingenieure, damit das Wissen über die Tablette und ihre Verdichtung in die Geräteentwicklung einfließt.“ Und Bruno Leclercq, Koordinator der KORSCH INNOVATION CENTER und des MEDELPHARM Science Lab, integriert die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Instituts in die Kundenberatungen, sodass sich „manche seit Jahren auf die Publikationen des I2M beziehen“. Aus seiner Sicht ist es daher dem I2M-Forscher zu verdanken, dass das STYL’One-Konzept in dieser Auflage verbreitet wird: „Der Markt für Kompaktierungssimulatoren war früher klein; nur wenige Unternehmen nutzten sie. Vincent Mazel hat einen hohen Einfluss auf unsere Marktentwicklungen.“ Für Gütter sind die größeren Rundlaufpressen, die im KORSCH INNOVATION CENTER zur Verfügung stehen, eine Möglichkeit, dem I2M einen besonderen Forschungsvorteil zu bieten: „Der Weg von der Entwicklung bis zum Endprodukt, von der Idee bis zum Test auf einer Rundlaufpresse, ist bei uns einfach und schnell“.
Das Projekt „STRAP“ - Scale TRAnsfer in Pharmaceutical compression – from compaction simulators to rotary presses
Das Projekt STRAP wird als Kooperation zwischen dem Institut für Partikeltechnik (iPAT) der Technischen Universität Braunschweig und dem Institut Mécanique et d’Ingénierie (I2M) der Universität Bordeaux umgesetzt. Die Projektleitung liegt bei Dr. Jan Hendrik Finke in Braunschweig und Dr. Vincent Mazel in Bordeaux. STRAP untersucht auf dem Kompaktierungssimulator Styl’One Evo und der XL 100 die Auswirkungen unterschiedlicher Formulierungen auf den Gesamtprozess.
Dazu widmet sich das deutsch-französische Team den beiden qualitätsbestimmenden Subprozessen „Füllen“ und „Kompaktieren“ an Rundlaufpressen. Das iPAT erforscht dabei das Materialverhalten beim Füllen der Matrizen auf dem Kompaktierungssimulator und dessen Übertragung auf die Rundlaufpresse, das I2M fokussiert sich auf den Verdichtungsprozess und die Reproduzierbarkeit von Tablettierfehlern. Nach den separaten Analysen werden die Ergebnisse in Beziehung gebracht, um daraus eine sichere Vorhersage von Prozessparametern und korrelierten Produkteigenschaften auf industriellen Maschinenskalen abzuleiten.
Das Institut de Mécanique et d’Ingénierie (I2M)
Das Institut der Universität in Bordeaux beschäftigt sich mit der De- und Rekonstruktion der Mechanik. 340 Mitarbeitende forschen multidisziplinär an physikalischen und physikalisch-chemischen Wechselwirkungen zwischen Herstellungsverfahren und Materialien. Das Team um Dr. Vincent Mazel untersucht die Probleme, die im Zusammenhang mit pharmazeutischen Pulvern und ihren Verarbeitungsschritten entstehen.
Über Vincent Mazel
Dr. Vincent Mazel promovierte 2006 in Physik und Werkstoffchemie. Von 2008 bis 2014 war er Dozent an der Universität Paris Sud, seit 2014 hat er eine Professur am Institut de
Mécanique et d’Ingénierie der Universität Bordeaux inne.